Es handelt sich im folgenden um ein fiktives Interview, in dem die Fragen des Redakteurs mithilfe von Zitaten aus Internetquellen beantwortet werden, die jeder nachlesen kann. Die geglückte oder auch misslungene Auswahl der vom Fragesteller erfolgten Antworten kann damit jederzeit beurteilt werden. Selbstverständlich wurde dieses Vorgehen vom Autor der jeweiligen Beiträge erlaubt.

Lieber Herr Krommer,

die überregionalen Lehrerverbände aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben sich in einer gemeinsamen Erklärung zur Digitalisierung der Schulen auf drei Kernpunkte geeinigt. Den ersten dieser Kernpunkte, Pädagogik vor Technik“, betrachten Sie in einem Blogbeitrag als „bestenfalls trivial“. Könnten Sie das etwas genauer erläutern?

Der Grundsatz „Pädagogik vor Technik“, der im aktuellen Diskurs über Bildung und Digitalisierung sehr häufig zu hören ist, hat mindestens drei Lesarten, die im Folgenden kurz kritisch betrachtet werden. „Pädagogik vor Technik“ kann demnach meinen,

  1. dass Technik dem Menschen dienen sollte, nicht der Mensch der Technik.
  2. dass man sich zunächst auf das pädagogische Kerngeschäft konzentrieren sollte, bevor man das Klassenzimmer für Technik öffnet.
  3. dass pädagogische Entscheidungen vor technischen Entscheidungen getroffen werden müssen.

Ich versuche in meinem Blog darzustellen, dass Lesart (1) zwar wahr, aber bestenfalls trivial ist, während die Lesarten (2) und (3) falsch sind und schlimmstenfalls dazu führen, insbesondere die Potenziale digitaler Medien für den Unterricht zu verkennen.
Bezogen auf Lesart (1) gibt es keinen einzigen Pädagogen und keine einzige Pädagogin, der bzw. die ernsthaft und explizit die These vertreten würde, dass der Mensch der Technik zu dienen habe. Und eine Aussage, deren Negation so absurd ist, dass ihr niemand zustimmen würde, ist inhaltlich schlicht trivial.
Das bedeutet jedoch nicht, dass der Grundsatz „Pädagogik vor Technik“ vollkommen wertlos wird. Denn auch inhaltlich Triviales kann wichtige kommunikative Funktionen erfüllen: Wenn sich beispielsweise die nächste Schule anschickt, ohne jedes didaktische Konzept digitale Technik anzuschaffen, kann „Pädagogik vor Technik!“ als warnender Weckruf dienen, der etwas Selbstverständliches zurück ins Bewusstsein hebt, das zuvor möglicherweise durch Hardware-Euphorie vernebelt wurde.
Die Lesart (2) führt u.U. zu Technikblindheit.
Für uns sind Schrift und Typografie so selbstverständlich geworden, dass ihr technologischer Charakter kaum noch wahrgenommen wird. Das kann zu der falschen Vorstellung führen, der auf Buch und Schrift basierende Unterricht sei durch eine Pädagogik geprägt, die ganz ohne Technik auskomme. Wenn man über das Verhältnis von Pädagogik und Technik nachdenkt, ist es jedoch entscheidend, auch Schrift und Buch als Unterrichts-Techniken zu identifizieren. Vor diesem Hintergrund entpuppt sich der Grundsatz „Pädagogik vor Technik“ in der aktuellen Debatte als versteckt-bewahrpädagogischer Appell: „Setze zuerst auf die Buch-und-Schrift-Pädagogik, bevor Du (digitale) Technik in Deine (didaktischen) Überlegungen einbeziehst!“. Doch wer dieser Aufforderung folgt, blendet nicht nur aus, wie sehr die traditionelle Pädagogik durch Buch- und Schrift-Technik geprägt ist. Aus der Buch-und-Schrift-Perspektive wird es auch sehr schwierig, sich an Prinzipien zeitgemäßer Bildung zu orientieren.
Lesart (3) kann schließlich zu Kulturblindheit führen.
Der Mehrwert digitaler Medien scheint nur dann gegeben zu sein, wenn sich die vorab gesetzten Ziele mit digitalen Medien besser, schneller, nachhaltiger etc. erreichen lassen als auf traditionellem Wege. Ausgeblendet wird bei diesem Vorgehen, dass die unterrichtlichen Zieldimensionen nicht unabhängig von medialen und technischen Rahmenbedingungen sind. Vereinfacht gesagt: Die Ziele, die sich in einem ausschließlich auf Buch und Schrift basierenden Unterricht realistischerweise erreichen lassen, unterscheiden sich signifikant von den Zielen, die man mit Buch, Schrift, Tablet und Internetzugang ansteuern kann. Der wahre Mehrwert digitaler Medien besteht also nicht darin, alte Ziele schneller zu erreichen, sondern völlig neue Zieldimensionen erstmals zu erschließen.

Sie verwenden in Ihrer Antwort zuletzt den Begriff Mehrwert. In einem weiteren Blogbeitrag haben Sie diesen ähnlich kritisch hinterfragt, wie den eben diskutierten Grundsatz. Sollte man diesen beinahe fundamentalen Begriff nun verwenden oder nicht?

Unsere Intuitionen im Hinblick auf den Mehrwert mögen klar und eindeutig sein – der Begriff und seine Anwendung im Bereich der Pädagogik sind es nicht.
Das gängige Verständnis vom Mehrwert ist häufig mit einer stark verengten Perspektive auf die mediale Grundierung des Unterrichts verknüpft. Denn Medien geraten erst dann in den Blick, wenn es sich um elektronische (oder digitale) Medien handelt. “Medienintegration” meint dann, den traditionellen Unterricht durch elektronische bzw. digitale Medien zu unterstützen. Und diese Integration gilt als didaktisch sinnvoll, wenn sich gegenüber dem Unterricht, der auf Stimme, Buch und Schrift basiert, ein Mehrwert ergibt
Gegen diese Sichtweise lässt sich jedoch einwenden, dass Medien nicht erst in Gestalt elektronischer (oder gar digitaler) Medien in den Unterricht integriert werden, sondern dass auch die Stimme, das Buch und die Schrift mediale Formen sind. Die (immer noch selbstverständliche) Sozialisation im Rahmen der Buchkultur macht den medialen Charakter von (menschlicher) Stimme, Buch und Schrift jedoch gleichsam unsichtbar und lässt auch vergessen, dass Buch und Schrift hochspezialisierte Technologien darstellen.
Das bedeutet: Es gibt keinen Unterricht ohne Medien. Oder wahlweise: Man kann nicht nicht-medial unterrichten.
Vor diesem Hintergrund ergeben sich (mindestens) drei problematische Aspekte:

  1. Es gibt keinen erkennbaren Grund, die Frage nach dem Mehrwert nur beim Einsatz bestimmter technischer Medien (z.B. beim Smartphone, nicht aber beim Buch oder Arbeitsblatt) zu stellen.
  2. Es fehlt eine Begründung dafür, warum nicht-technische Medien (d.h. die Stimme oder der Mensch) gar keinen Mehrwert-Test bestehen müssen: Wäre es nicht sinnvoll, sicherzustellen, dass Lehrer(in) A gegenüber Lehrer(in) B einen Mehrwert aufweist, bevor er oder sie in den Unterricht integriert wird?
  3. Es ist nicht nachvollziehbar, warum bestimmte mediale Formen einen höheren Wert haben müssen als andere, bevor sie legitimerweise im Unterricht eingesetzt werden dürfen: Würde nicht ein Gleich-Wert genügen?

Dass der Mehrwert-Begriff perspektivisch fest in der Buch-Schule und keinesfalls in der Digitalisierungs-Welt verwurzelt ist, lässt sich besonders gut erkennen, wenn man sich die gängigen Formate von Abschlussprüfungen ansieht. In der Regel muss hier zu einer festgelegten Zeit an einem festgelegten Ort eine Einzelperson, die weder das Internet nutzen noch mit anderen in Kontakt treten darf, handschriftlich und (fast) ohne Hilfsmittel eine vordefinierte Aufgabe lösen. Was innerhalb der Schule alltäglich ist, ist im Alltag absurd: Unter den Bedingungen der Digitalität löst man komplexe Probleme nicht (oder nur in Ausnahmefällen) dadurch, dass man sich isoliert und offline mehrere Stunden mit Papier und Bleistift einschließt.

Wenn solche Prüfungsformate herangezogen werden, um den Lernerfolg zu messen und damit auch den Mehrwert zu bestimmen, dann können digitale Medien nur schlecht abschneiden (vgl. hierzu auch Rosa 2016). Denn die Kompetenzen, die sich mit ihrer Hilfe besonders gut fördern lassen, werden im Rahmen der Buchkultur-Prüfung nicht honoriert. Im Gegenteil: Kommunikation und Kooperation, die zu den Kernkompetenzen des 21. Jahrhunderts gezählt werden, sind während einer klassischen Klausur vor allem eins: Formen des Betrugs. Auf dieser Grundlage kann dann die strukturkonservative Mehrwert-Falle zuschnappen:

  1. Der Einsatz digitaler Medien ist nur gerechtfertigt, wenn es einen Mehrwert gegenüber analogen Medien gibt.
  2. Der Mehrwert digitaler Medien wird mit (analogen) Prüfungsformaten gemessen.
  3. Die Prüfungsergebnisse zeigen, dass digitale Medien keinen Mehrwert gegenüber analogen Medien bringen.
  4. Daraus folgt: Der Einsatz digitaler Medien ist nicht gerechtfertigt.

Wenn wir über Bildung unter den Bedingungen der Digitalisierung reden, sollten wir auf den Begriff “Mehrwert” verzichten, um auch terminologisch eine angemessene Grundlage dafür zu haben, die didaktischen Potenziale unterschiedlicher Medien sinnvoll zu gewichten.

Am Ende Ihres Blogbeitrages stellen Sie die Aufgabe an den Leser einen Analogieschluss zu vervollständigen, den Sie aus einem Vortrag von Philipe Wampfler entlehnt haben. Ich zitiere das hier anstelle eines Schlusswortes, bedanke mich ausdrücklich für die geistigen Anregungen und empfehle beide Beiträge einschließlich der Kommentare zum nachlesen.

Vielen herzlichen Dank

  1. Limetten stellen keinen Mehrwert für eine Guacamole dar. Vielmehr gilt: Eine Guacamole ohne Limetten ist keine Guacamole.
  2. Digitale Medien stellen keinen Mehrwert für den Unterricht unter Bedingungen der Digitalisierung dar. Vielmehr gilt: …

Zur Information über den Autor und einige weitere sehr interessante Beiträge zum Thema  „Bildung unter den Bedingungen der Digitalität“ empfehle ich https://axelkrommer.com/

Die verwendeten Artikel können Sie hier nachlesen:

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